Mein Schüleraustausch in Frankreich
Linus | |
2013 |
„Das war eins der wertvollsten Dinge, die ich je gemacht habe!“
„Das war eins der wertvollsten Dinge, die ich je gemacht habe!“. Diesen Satz in allen möglichen Variationen bekommen fast alle meine Fahrer zu hören. Dabei hätte ich mir während meines halbjährigen Aufenthaltes in Frankreich nie vorstellen können, so etwas zu sagen. Schule fiel mir damals schwer, mit meiner Gastfamilie gab es trotz sehr schöner Tage auch sehr unschöne Tage und meistens freute ich mich wieder auf meine Zeit in Deutschland. Wie sollte ich das also als „wertvoll“ bezeichnen? Spaßig, ja. Ungewöhnlich, ja. Und auch interessant; aber wertvoll passte da nicht. Ich war eben einfach in einem anderen Land. Nach meinem Aufenthalt dachte ich mir: Gut, ich habe eine neue Sprache gelernt, und ja, ich habe jetzt ein Land gleich neben meinem Heimatland, dessen Straßenschilder mir nicht mehr fremd vorkommen, dessen Bewohner ich einschätzen kann und dessen Kultur mir gefällt. Und gut, meine Gastfamilie besuche ich gerade auch nur per Anhalter, weil ich Französisch sprechen kann. Doch da musste ich dann einlenken: Bitte was?! Du trampst durch Frankreich? Bist du denn völlig irre? Tja, nein, war ich nicht. Ich war einfach nur anders. So anders, dass ich mich darauf freute, neue Menschen kennen zu lernen, zu trampen, eine neue Sprache weiter zu verwenden und jedes neue Wort aufzunehmen und zu behalten um ja nicht als Deutscher erkannt zu werden. Und das ist der Moment, in dem ich in die Gegenwart wechseln muss.
Ich bin jemand anderes seit meinem Aufenthalt in Paris. Schüchtern würde ich mich nicht mehr nennen. Die Eins in Französisch zeigt mir auch deutlich, dass es jetzt keine Fünf mehr ist und sich darauf zu freuen, meine Gastfamilie wieder sehen zu können, passiert mir irgendwie auch ständig. Ich gehe auf Leute zu und habe keine Angst mehr, in Fettnäpfchen zu treten, weil ich mittlerweile weiß, wie witzig das auch sein kann! Möchte man zum Beispiel ein Anekdote über Größen erzählen, sollte man einen „kleinen Freund“ nicht wörtlich übersetzen, denn die Übersetzung „petit ami“, die dabei herauskäme, bedeutet auf Französisch einen „Beziehungsfreund“ zu haben.
Und genau deshalb erzähle ich den Fahrern beim Trampen, dieser Austausch sei „das Wertvollste, das ich je gemacht habe“ gewesen. Dabei kam diese Erkenntnis erst sehr viel später nach dem Austausch. Ich denke ich habe etwa ein Jahr gebraucht, um mir des letzten halben Jahres erst richtig klar zu werden. Zurück in meiner Schule in Deutschland startete fast alles normal. Mit Ausnahme, dass ich mich im Französischunterricht selbst nicht wiedererkannt habe. Allmählich unterhielt ich mich allerdings dann mit mir zuvor völlig fremden Mitschülern. Plötzlich waren die interessant. Das tolle Gefühl zu wissen, dass es da ein Land gibt, in dem man genauso gut zurecht kommt wie im Heimatland wirkt sich in meinem Fall äußerst positiv auf meinen Wunsch zu Reisen aus. Am liebsten würde ich jedem Land so nahe stehen wie Frankreich oder Deutschland.
Ich denke, ein Schüleraustausch ist vor allem in Hinsicht auf die Sprachbarriere eine der besten Möglichkeiten, die junge Menschen haben, um sich mit der Welt ein Stück vertrauter zu machen. Ohne eine funktionierende, verbale Kommunikation sind andere Werte als Sprache gefragt. Aufmerksamkeit wird geschult, Hilfsbereitschaft oder auch Menschenkenntnis. Eigentlich ist ein Schüleraustausch wie ein großes Rätsel. Man muss herausfinden, wie die neuen Menschen um einen herum funktionieren. Die Lösung findet man aber erst, wenn man sich selbst verstanden hat. Ob man richtig lag, kann man danach mit diesen Menschen besprechen. Man kann ja die Sprache!
Einer der schönsten Momente meines Aufenthaltes war, als ich einem Mitschüler fehlerfrei auf Französisch und gedanklich mehr ab - als anwesend beschreiben konnte, wer wann wo weshalb hingegangen war. Das kam einfach so aus mir raus. Ohne dass ich darüber nachdenken musste. Ich war selbst überrascht und musste deshalb umso mehr darüber nachdenken, was gerade passiert war. Man darf sich dank des Schüleraustausches auch auf die Situation freuen, einem wildfremden Menschen mehr als nur eine Sprache zur Kommunikation anbieten zu können und im besten Fall dadurch einen neuen Freund zu finden.
All jene, die sich vor der durchaus schwierigen Frage sehen, ob sie einen Schüleraustausch wagen sollen oder nicht, kann ich nur mit einem unverschämt lauten „JA!“ dazu ermuntern. Du wirst es nicht bereuen. Und wenn doch, dann warte ein Jahr und denk nochmal darüber nach. Wenn du mir danach immer noch erzählen möchtest, dass du es bereust, muss ich dich kennen lernen.